Wenn der Harvard Business Manager mit „Rebellen gesucht“ titelt – wie in seiner Februarausgabe – und im Blog der Zukunft Personal – immerhin Europas größter Fachmesse für Personalmanagement – Kollegen gefeiert und geschätzt werden, weil sie als „Anti-Berater“ in Unternehmen kritische Fragen stellen, dann kann man davon ausgehen, dass da was im Busch ist. Wenn man dazu wahrnimmt, dass sich der (digitale & VUCA-)Veränderungsdruck in den Unternehmen erhöht und sich – gerade in größeren Unternehmen – Management und Mitarbeiter wahrnehmbar auseinandergelebt haben, dann erkennt man auch das Feuer, dass da in diesem Busch schwelt. Es schwelt ein Brand, der in der Lage ist, schleichend die Basis der konstruktiven, zielgerichteten Zusammenarbeit, aufzufressen und der damit die eigentlich anstehenden Metamorphose zu einem Ding der Unmöglichkeit macht. Schließlich wird das Austreiben neuer („digitaler“ Geschäftsmodell-)Blüten und eines stabilen Blätterwerks zur Wertschöpfung unter diesen Umständen schlichtweg ausbleiben.
 
Warum kommt unter diesen Umständen so wenig Bewegung ins Management? Warum haben so viele, auch direkt an den Unternehmen Beteiligte – Mitarbeiter, wie Kunden, Investoren und auch die Führungskräfte und die Geschäftsführungen selbst  – den Eindruck, dass sich zu wenig tut, dass die notwendigen Schritte einfach nicht gegangen werden? Fehlt der, wie Harald Schirmer es nennt, „Mutanfall“?
 
Aus psychologischer Sicht ist das Festhalten an herkömmlichen – in der Vergangenheit womöglich erfolgreichen – Denk- und Verhaltensmustern, ein normaler Effekt. Diese „Status Quo Verzerrung“ gibt uns das Gefühl der Bestätigung und Sicherheit. Weil wir „die möglichen Nachteile der Abweichung vom Status Quo für größer halten, als den möglichen Nutzen, bevorzugen wir Entscheidungen, die nicht an den gegebenen Verhältnissen rütteln.“ (wie Francesa Gino im HBM 02/17 schreibt).
 
Doch, egal ob menschlich nachvollziehbare „Status Quo Verzerrungen“ und Bevorzugungen tradierter Denkweisen – es hilft nichts. Irgendwie müssen die Unternehmen in Bewegung kommen! Weitgehender Stillstand ist hier sonst tatsächlich noch der Tod.
 

Man möchte rufen: „Ehhh, kommt endlich in die Pötte!!!“  

Ein-Blick ins Mittelalter

Wenn der Blick nach vorne verstellt ist, vielleicht hilft dann ein Blick zurück ins Mittelalter. Vielleicht bietet dieser eine neue Perspektive um dieses aktuelle Problem zu versehen und zu lösen.
An manchen Fürstenhöfen gab es damals die fast schon provokante und zugleich doch extrem hilfreiche Erscheinung des „Hofnarren“, für die Analogie zum heutigen Bedarf konkreter die des „künstlichen Narren“, der mit zumeist hoher Intelligenz die Aufgabe hatte, als kritischer und zugleich geduldeter und geschätzter Spiegel und Ratgeber zu fungieren. Er war damit oftmals die einzige soziale Institution im (Hof-)Staat der (öffentliche) Kritik zugestanden wurde.
 
Die Autoren in Wikipedia schreiben dazu: “Narren hatten zu Teilen an Fürstenhöfen auch die politische Funktion, zu Zeiten absolutistischer Herrschaft die einzigen zu sein, die dem Fürsten noch die Wahrheit übermittelten, ihn an das Geschehen in seinem Herrschaftsbereich ankoppelten. Sei es, dass sie selbst als Spaßmacher oder Künstler scharfe Beobachter des Zeitgeschehens waren oder aber sich von Ratgebern und Hofleuten zur Übermittlung von Informationen oder Meinungen instrumentieren ließen bzw. Wahres und Nachdenkenswertes dem Fürsten übermittelten. Dinge, die ein „normaler Mensch“ wegen des Zornesrisikos sich nicht vor Publikum oder Zeugen zu sagen getraut hätte, weshalb man eben noch den Narren vorschicken konnte. Wenn die Meinungen und Mitteilungen ungefällig waren, dann tat man es eben als „Narretei“ ab.“
 
Nein, natürlich sind wir nicht mehr Zeitzeugen absolutistischer Herrschaft in Unternehmen – und wenn doch, würden diese Unternehmen heute wohl keine modernen Hofnarren zulassen.
 
Dennoch bringt die Zeit und die Komplexität und Dynamik heutigen Geschäfts mit sich, dass sich klassische Strukturen zunehmend entkoppeln. Die Entfernung der Führung zum Markt wächst genauso mit den Aufgaben, die kundennah allokiert werden, wie mit der Notwendigkeit der Mitarbeiter, die im direkten Kundenkontakt stehen, schnell, effizient und zugleich effektiv zu handeln. Dabei bleibt immer weniger Gelegenheit das Management wieder abzuholen oder mit den alt gewohnten Reports und Informationen zu versorgen.
 
Zudem führt die tayloristische Entkopplung von Kopf und Hand bis heute dazu, dass Unternehmen bevorzugt mittels KPIs und Dashboards gesteuert werden, die zwar die rationalen, ökonomischen Parameter jedoch nicht Stimmungen, Meinungen und Ideen ins Sichtfeld der Führung rücken.
 
Doch wie könnte ein konstruktiver Nonkonformismus wie der des Hofnarren heute aussehen? Was bringt er? Wo sind seine Grenzen? Und warum sollte es nur eine Übergangsfunktion bei der Neugestaltung unserer Managementtechnologien einnehmen?
 
Managementtechnologie, das Betriebssystem der Unternehmen, ist im gleichen Maß im Wandel, wie die „digitale“ Technologie. Wo digitalisiert wird, verändert sich der Umgang mit Wissen, mit Kommunikation, die Zusammenarbeit und Entscheidungswege. Damit ist es für viele Unternehmen eine Pflichtaufgabe, sich neben „dem Digitalen“ auch mit einer Veränderung der Organisations-, Führungs- und Entscheidungsstrukturen auseinanderzusetzen. Tun sie das nicht, werden sie an diesem Teil der Folgen der Digitalisierung höchstwahrscheinlich scheitern. Doch – diese Veränderung braucht Zeit – zumeist wohl mehr, als die Umrüstung von Technologie. Der „moderne Hofnarr“ kann hier als Katalysator für die Veränderung wirken. Er kann den relativ angstfreien Einstieg in mehr Dialoge, mehr Austausch und die persönliche Selbstreflexion von (Top-)Führungskräften erlauben. Er kann so als „Übergangstechnologie“ diesen Teil des Wandels deutlich erleichtern.
 

Doch wie?   

Die Liste der Kernaufgaben eines modernen Hofnarren ist im Grunde so lang wie die Liste der typischen Probleme in Organisationen. Kurz gefasst geht es jedoch „nur“ darum, die richtigen Fragen zu stellen, die Antworten zu sammeln, sie zu konsolidieren, zu analysieren und den richtigen Adressaten zuzutragen. Augenhöhe im Dialog mit allen Stakeholdern, unabhängig von deren Rolle und Status, ist dabei zwingend.
 
Dieser (zuweilen) Tabubruch eröffnet Raum für die Ansprache von – zum Beispiel – niedrigschwelligen Probleme der Hinterbühne oder gibt Raum für kreative und echt abgedrehte Ideen, denen dieser Freigeist als Spediteur dienen kann. Zugleich lässt er Netzwerke entstehen und verbessert und verkürzt ganz nebenbei die direkten Kommunikationswege.
 
Im Dialog mit den „Chefs“ erweitert er sukzessive und iterativ deren Perspektive und ihr (Selbst-)Bewusstsein. Er ist personifiziertes und kontinuierliches 360° Feedback und durch sein Beispiel Fundament für die Entwicklung einer neuen Feedbackkultur. Er ist Frühwarnsystem, Katastrophenhelfer und Advocatus Diaboli zugleich.
 
Er agiert zugleich nah am Epizentrum der (klassischen) Machtstrukturen und in unmittelbarem Bezug zur Wertschöpfungskette – die er mit seinem Beitrag zur Wertschätzungskette machen kann. Dennoch ist die Rolle weit von der eines Feelgood-Managers entfernt, denn es geht eher um tiefe, ehrliche Einblicke ins Unternehmen, um positive wie negative Kritik, als um die Verbesserung der Zufriedenheit der Mitarbeiter.
 
Diese Hofnarren haben damit eine Schlüsselposition in Bezug auf die Beschleunigung des Wandels, wie auch auf dessen Erfolg überhaupt.
 

Alles hat seinen Preis

Doch – soviel Einfluss hat einen Preis. Weniger für die Hofnarren selbst – zumindest wenn dieser in seiner Rolle gewollt, etabliert und akzeptiert ist – als für das Management. Mit der demonstrativ dargestellten, steigenden Offenheit, mit dem sichtbaren Versuch eine Brücke zwischen dem Management und den Mitarbeitern zu bauen und der expliziten Erlaubnis an den Hofnarren nonkonform zu handeln und den Status Quo in Frage zu stellen oder gar zu widersprechen, steigt auch die Bereitschaft bei den übrigen Mitarbeitern selbst so zu handeln. Das Selbstbewusstsein aller steigt, die ersten Schritte in Richtung zu mehr Selbstverantwortung und dem Eröffnen neuer Entwicklungs- und Wachstumschancen für einzelne und alle gemeinsam rücken näher. Und – auch damit ist zu rechnen – Hierarchien werden zunehmend in Frage gestellt und Selbstorganisation gefördert.
 
All diese – aus klassischer Sicht – vermeintlich negativen Folgen treten zwar auch auf, wenn Unternehmen die Entwicklungsnotwenidgkeit des Managements negieren und allein auf technologischen Wandel setzen – dann jedoch wahrscheinlich deutlich unstrukturierter, weniger fokussiert und mit gegebenenfalls deutlich fataleren Folgen.
 

Eine Rolle mit hohen Anforderungen

Das Etablieren der Rolle eines solchen modernen Hofnarren gibt ganz aktiv Beispiel für (neue) kulturelle Werte, wie etwa Respekt, Vertrauen, Verbundenheit, Vernetzung, Anpassungsfähigkeit, -befähigung, -bereitschaft und -wille, oder Transparenz. Alles Werte, die im Kontext von Führung im Zeitalter der Digitalisierung immer wieder genannt werden. Damit sind die Anforderungen an den oder die Rolleninhaber und Rolleninhaberinnen allerdings hoch.
 
Ideal wäre jemand, der selbstreflektiert, selbstsicher, vertrauenswürdig, integer, unabhängig, lebenserfahren, resilient und ohne eigene Agenda im Unternehmen Zeit hat sich zum „systematischen Kaffeetrinken“ auf allen Ebenen zu verabreden und die richtigen Fragen zu stellen. (Dies sind wahrscheinlich die wertvollsten Kaffees im Unternehmen.) Um dies zu tun muss er die Sprachen der Abteilungen verstehen, sowie ihre Konzepte und Methoden. Und er muss insbesondere auch letztere immer wieder in ihrer aktuellen Relevanz und Richtigkeit hinterfragen und zur Neubewertung anregen.
Analyse- und Kommunikationsstärke gehören ebenso zum Anforderungsprofil, wie die Fähigkeit die eigenen Wahrnehmungen von der gehörten „Wahrheit“ zu unterscheiden und entsprechend zu artikulieren.
 
Die Liste ließe sich noch erweitern – am Ende hängt sie jedoch auch davon ab, wie und wo das  Unternehmen und dessen Management steht, dass sich auf diese Weise auf den Weg macht. Wie so vieles im Kontext einer neu zu gestaltenden Zusammenarbeit geht es auch hier um ein ganz spezifisches, organisationsindividuelles Design, passend zu den jeweiligen Rahmenbedingungen.
 
Bevor sie jetzt losgehen und dieses Profil ausschreiben noch die wichtigsten Punkte: Der (zukünftige) Rolleninhaber zuallererst das Mindset, die Haltung mitbringen, die eine solchen Aktivität auf der Metaebene des Unternehmens erfordert und, nicht zuletzt, muss er die Vision der Organisation vollumfänglich mit tragen.
 

Was tun, wenn sich niemand findet?

Und wenn sie im Unternehmen nicht fündig werden oder eine Kombination von internem und externem Hofnarren suchen?
Gute Hofnarren kann man auch „draußen“ kaufen – sogar temporär, z.B. in Form eines „Anti-Beraters“ wie Sven Franke, einem meiner freiKopfler Kollegen, mir oder eines anderen Frei-, Quer- und Vordenkers. Dabei ist auch dies immer, gerade da es um Nachhaltigkeit geht, der Beginn einer langfristigen auf Vertrauen und Verbundenheit basierenden Begleitung und Zusammenarbeit, die viele gemeinsame Erfahrungen mit sich bringen wird. Entsprechend sorgsam und bewusst sollten Sie wählen.
 
Der moderne Hofnarr hat mit diesem Ansatz das Potenzial eben nicht der sprichwörtliche „fool with a tool“ zu sein, sondern tatsächlich Ihre ZUKUNFT heute schon bestmöglich auf den Weg zu bringen.
 
Aber vielleicht gefällt Ihnen ja auch der Begriff „Organisationsmentor´“ oder „OrgaMentor“ besser als der „Hofnarr“. Die Rolle ist dieselbe.
 
Was denken Sie? Gibt es den OrgaMentor in Ihrem Unternehmen schon? Wer könnte die Rolle füllen und die Aufgabe übernehmen?
 
P.S.: Mein Dank geht an
•den Harvard Business Manager für den Artikel zur richtigen Zeit,
Sven Franke und Stefanie Hornung für den Impuls durch das Interview im Blog der Zukunft Personal,
Franz-Peter Staudt für die angeregte Diskussion zum Thema auf dem Weg zu LeanTalkTV (zu den Schamanen schreibe ich dann demnächst mal 😉
Conny Dethloff und meine Kollegen und bekennenden Hofnarren bei den freiKopflern (Christoph Karsten und Heiko Bartlog) für die Diskussion zu Hofnarren in Unternehmen bei LATC17 – und an alle die bei dem Thema Resonanz verspürten,
Lukas Michel für seine immer wichtiger werdenden Impulse zum Redesign von Management,
•und an Lars Hahn für den Begriff „systematisch Kaffeetrinken“.