In der Februarausgabe des manager magazins bin ich über eine Handvoll Artikel gestolpert, in denen aktuelle Entwicklungen in einigen deutschen Traditionsunternehmen beschrieben wurden. Ich glaube ein Muster darin erkennen zu können, was mich bewogen hat, den hier folgenden offenen Brief an diese Unternehmen zu schreiben.
 
“Sehr geehrte Eigentümer, Vorstände und Top-Manager von Haribo, der Lidl Gruppe, Faber-Castell, Bogner und Warsteiner, (und alle anderen, deren alte, große Unternehmen sich in ähnlich turbulentem Fahrwasser befinden).
 
Der Weg traditionsbewusster Unternehmen in die Zukunft führt stärker über die persönliche Reflexionsbereitschaft des Managements als über Ansätze klassischer Unternehmensoptimierung.
 
Ein wichtiges Thema, dass große wie kleine, junge und alte Unternehmen, wie Ihres, derzeit umtreibt ist die Frage, wie der immer schnellere, immer vielschichtigere Wandel immer besser gestaltet werden kann. Ein Wandel der von außen durch steigende Komplexität, zunehmende Kommunikations- und Informationsmengen, direktere Interaktion mit Kunden, Partnern und Mitarbeitern induziert wird und dem auch Sie sich nicht entziehen konnten und können. Ein Wandel der unter anderem auch Ihre internen Angelegenheiten, Ihren Weg die Herausforderungen zu meistern, immer mehr auch zu einem öffentlich dokumentierten und diskutierten Thema macht.
 
Es ist ein Wandel, der unmöglich macht ohne “Erneuerung”, ohne Innovation zu verharren, der verbietet, ethische Grundsätze leichtfertig zu verletzen und der vor allem von jedem fordert, sich selbst im eigenen Tun und Denken konsequent zu reflektieren und hinterfragen.
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In Unternehmen, die lange, teils über Generationen hinweg, vom selben Geist geführt wurden, in denen Traditionen entwickelt und etabliert wurden, in denen in Fleisch und Blut übergegangen ist, wie man miteinander umgeht, wie Dinge zu sein haben, in solchen Traditionsunternehmen wirbelt heute der “Wind of Change” mit neuer Macht als Orkan durch die Hallen und Büros. Ein Wind, der nach langer Zeit erstmals auch wieder das Management ergreift und es auffordert sich zu überdenken, auszuloten und neu aufzustellen.
 

„Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Albert Einstein

 
Viele Unternehmen versuchen weiterhin die neuen Themen mit alten Lösungen anzugehen. Mitarbeiter werden in “agilen Schulungen” fit gemacht, es wird digitalisiert und weil klar ist, dass diese Entwicklungen sich direkt auf die Zusammenarbeit auswirken, wird versucht an der Kultur zu schrauben. Daneben laufen die gleichen alten Effizienzsteigerungs-, Kostensenkungs-, Personaleinsparungsprogramme und Reorganisationen, die wir alle schon lange kennen.
 
Bei all dem wird heute immer deutlicher sichtbar, dass diese Maßnahmen kaum mehr sinnvoll sind und vor allem dazu dienen die Symptome zu behandeln. Sie sind dabei immer weiter davon entfernt, die Ursachen zu betrachten, zumindest solange, wie nicht tatsächlich alle relevanten Kräfte im Unternehmen in die Betrachtungen mit einbezogen werden. Und dazu gehören ganz ausdrücklich, heute mehr denn je, auch Sie.
 
Auch Sie sind Teil von mehr Agilität, auch Sie sind Teil der Digitalisierung und auch Sie sind ein wichtiges Element der gelebten Kultur in Ihrem Unternehmen. Was Sie tun und nicht tun hat weitreichende Folgen. Ihr Handeln, Ihr Beispiel bestimmen noch immer das Geschick des Unternehmens. Und dennoch, oder gerade deshalb, sollten auch Sie sich als variable in die Gleichung mit einbeziehen. Auch Sie selbst sollten Ihre persönlichen, erlernten und ererbten Management- und Führungstraditionen überdenken, Ihr Managementdesign und Ihren eigenen Umgang mit Führung zukunftsgerichtet analysieren und reflektieren.
 
Wären wir 20 Jahre weiter, hätten Sie Ihre Produktion und Kreativabteilungen zu 100% automatisiert, würde “künstliche Intelligenz” den Zeitgeschmack analysieren und mit geeigneten Produktentwicklungen darauf reagieren und würden autonome Fahrzeuge Ihre Waren ausliefern, dann wäre Ihr Unternehmen nur ein kleines Rad im mächtigen Getriebe der Versorgungskette unseres Lebens in diesem Landes – und Ihr Handeln nicht weiter relevant.
Aber noch arbeiten in Ihren Unternehmen Menschen, noch geht es darum diese und sich selbst  richtig zu führen und diese Führung und die Intention und die Ausgestaltung von Management immer wieder und konsequent an das anzupassen, was das Geschäft und das Geschäftsmodell verlangen.
 
Noch vor 20 Jahren war vieles logisch und richtig, was heute, unter anderen Rahmenbedingungen, bedenklich ist. Neben den Geschäftsmodellen war die Maxime, den damals noch langfristig investierenden Anteilseigner zufrieden zu stellen. Heute handeln an der Börse mehr Algorithmen als Menschen. Heute hat sich der Finanzmarkt von der Realwirtschaft entkoppelt. Heute kommen als Gegenbewegung immer mehr ethische und menschliche Elemente in den Fokus guter Führung und guten Managements.
Auch hier herrscht Vielfalt vor. Ambidextrie ist in aller Munde und Beid- oder eher Vielhändigkeit gefragt. Schließlich gilt es die Diskrepanz zwischen einer wachsenden Komplexität und Dynamik und der Notwendigkeit von mehr Sicherheit, Stabilität und Resilienz zu meistern.
 
In der Folge werden “Digitalpoiniere” und Gurus gehypt, Kultur- und Feelgoomanager eingestellt  und die Auftragsbücher der (großen) Beratungen mit Change Management Aufträgen und innovativen “New Work Initiativen” gefüllt. Kurz: der Maßnahmenkataloge werden immer dicker, die Taktfolge der Aktivitäten immer dichter. Das Innovations-Improvisationstheater erlebt jeden Monat neue Zuschauer und Teilnehmerrekorde.
Zugleich scheint es, als würden die Ergebnisse immer dünner, als würden viele der Maßnahmen versagen, als Rohrkrepierer enden oder zumindest als “fail fast” Feigenblatt für abgebrochene Experimente herhalten müssen.
Nur verblüffend wenigen Unternehmen scheint es zu gelingen, in diesem neuen, sich kontinuierlich verändernden (Markt)Umfeld Fuß zu fassen.
 
Doch, auch wenn nur wenige Einfluss auf das haben, was da (mit ihnen) geschieht, zumindest Sie, die Top-Manager und Unternehmen, haben es, wie nur wenige selbst in der Hand, sind die Regisseure und die Produzenten ihres eigenen Innovations-Improvisationstheaters. Sie selbst bestimmen, den Weg und die Richtung. Sie sind es, die entscheiden, welchem Guru Sie folgen, welchen (Beratungs-)Ansatz zu forcieren.
 
Dies bedeutet auch: Sie selbst müssen wissen und entscheiden, was Sie (vor-)leben wollen, was bedeutsam und zukunftsgerichtet ist. Sie sind heute nicht länger nur Aushängeschild und Entscheider. Sie Sind mehr als je zuvor Zugpferd und Trendsetter. Sie bestimmen entscheidend (mit), wie intensiv sich Ihre Mitarbeiter mit Ihrem Unternehmen identifizieren, wie sehr sie sich engagieren, wie (im besten Sinn) loyal sie agieren und mit ihren Ideen, Ihrem Unternehmen neuen Schwung geben.
 
Nie zuvor waren Unternehmen und ihr handeln so sichtbar, so transparent. Nie zuvor war es für die Menschen an der Spitze so schwer, sich hinter Bürotüren zu verstecken. Und nie zu zuvor waren die Chancen so gut, durch bewusstes Management, mit gesundem Menschenverstand und gesundem Menschengefühl, die Mitarbeiter zu begeistern und zu den eigentlichen Gestaltern des Unternehmens werden zu lassen. Nie zuvor war es leichter, sich als Top-Manager auf die Belegschaft zu verlassen – und nie war es notwendiger!
 
Doch, es gibt dafür kein Patentrezept. Es gibt keine Blaupause für Erfolg in d(ies)er VUCA-Zeit. Es gibt zum Start auf diesem Weg nur die Bereitschaft, Ihre Bereitschaft, sich von den Traditionen der Unternehmensführung zu trennen und sich für neue Wege im Managementdesign, im Verhalten und der Haltung von Führung zu öffnen.
 
Anderseits, und damit sage ich Ihnen nichts Neues, gibt es probate Wege, Vordenker und Vorreiter, die das Gebiet erkundet haben. Es gibt Erkenntnisse aus Erfolgen und Niederlagen und es gibt Werkzeuge, um tiefe Einblicke zu erhalten und sich selbst und das eigene Unternehmen klarer zu sehen.
 
Wo früher das Tun und die Absicht weit getragen hat, so Kybernetik, Steuerung und Kontrolle, der Weg zum Erfolg waren, da ist heute Wirksamkeit gefragt. Tief verankerte, von jedem mit getragene Wirksamkeit. Nachhaltige Wirksamkeit, ethisch vertretbar, ist was Kunden (und Mitarbeiter und Geschäftspartner) immer mehr fordern. Eine Forderung die inzwischen auch von institutionellen Investoren laut wird, weil auch sie erkannt haben, dass die Zukunft von Unternehmen sich nicht allein mehr aus deren Erfolgskennzahlen ableiten lässt.
 
Bei Unternehmen, die Sich außergewöhnlich lange in ihrem Markt etablieren konnten, die die Stürme und Klippen der Generationen in Mitarbeiter- und Kundenstamm gut überstanden haben, lassen sich ein paar Grundmuster ableiten, die es, wie ich denke, lohnen sie zu betrachten und zu reflektieren.
 
Solche langlebigen Unternehmen sind,

  • bewusst verschwenderisch,
  • proaktiv und vorbereitet,
  • intensiv, interdiszipinär verbunden & vernetzt,
  • offen für Anpassung und kontinuierliche Veränderung & Entwicklung,
  • vielfältig in ihrem Tun und Denken.

Sie sind damit auf Effektivität statt aus Effizient getrimmt, auf wirksame Anpassungsfähigkeit statt langfristige Planung und auf Dynamik und den aktiven Umgang mit Komplexität.
 
Diese Unternehmen nutzen bewusst Redundanzen und einen modularen Aufbau, um sich gegen Unvorhersehbares abzusichern. Sie agieren vorausschauend, um das Absehbare zu nutzen oder zu vermeiden. Sie sind intensiv mit ihrem Umfeld, mit Protagonisten und Gegnern im Austausch, um sie besser zu verstehen und gemeinsam mit Partnern neues zu gestalten und neue Erfolge zu erzielen. Sie passen sich an neue Gegebenheiten an und gestalten, wo sich Gestaltungsraum ergibt und sie erzeugen damit eine Vielfältigkeit, im Inneren, wie im Äußeren, die es erlaubt mit den Entwicklungen positiv und proaktiv umzugehen. Es gelingt ihnen so, ihre Macht zu nutzen, aus ihnen kontinuierliche Erfolge zu generieren, bevor sie wieder vergeht.
 
Ich wünsche Ihnen Glück und gutes Gelingen auf Ihrem weiteren Weg und dem Ihres Unternehmens. Vielleicht waren ein paar Anregungen in diesem Text, die es Ihnen erlauben diesen Weg in die Zukunft (noch) erfolgreicher zu gestalten.
 
Viele Grüße,
Ihr Guido Bosbach”