Alles hat seinen Preis. Mit Blick auf meinen letzten Artikel hat auch der nachvollziehbare Wunsch einfach nur mit Herz und Verstand arbeiten zu können seinen Preis. So sehr ich mich über die positive Resonanz meines letzten Artikels freue, so sehr sehe ich auch nur Notwendigkeit ein wenig die andere, komplexere Seite eines „erfüllteren“ Arbeitens aufzuzeigen.
 
Ihr kennt doch den Spruch von dem Sack Reis, der in China umfällt. Früher ein Synonym für Irrelevanz. Heute wird klar: der Sack Reis scheint irgendwie doch Relevanz zu besitzen! Fast wie in der IBM Werbung für deren Cloud Services, in dem einige sonst unscheinbare Zusammenhänge aufgezeigt werden, kann dieser Sack Reis in einer so stark zusammengewachsenen Welt eben doch immense Auswirkungen haben. 
 
Früher nannten wir es Chaostheorie, wenn wir nicht ableiten konnten, wie sich Dinge auswirken. Oder wir bemühten Schmetterlinge im Amazonas, um aufzuzeigen, dass aus einem Flügelschlag ein Orkan im Nordatlantik werden kann. Heute nennen wir es Komplexität und zitieren aus der Systemtheorie, wenn wir wissen, dass wir uns zwar gut vorbereiten und vorausschauend handeln können, wir aber das Heft ganz sicher nicht mehr in der Hand haben und jede noch so akkurate Planung spätestens in dem Moment obsolet ist, in dem man sie abschließt. 
 
Immerhin haben wir es auf diesem Weg geschafft das Chaos verständlicher zu machen und doch wird noch immer gerne versucht Komplexität zu Kompliziertheit zu vereinfachen. So als könne man den Schmetterling nachträglich in ein Gewächshaus einsperren, damit der Flügelschlag keine verheerenden Folgen hat.
 
Aber Schmetterlings sind ja gar nicht mein Thema. Mir geht es um Arbeit, Zusammenarbeit, besser noch einfache & erfolgreiche Zusammenarbeit. Und damit wird’s dann hier jetzt etwas komplexer, gerade, weil gute Zusammenarbeit bedeutet „gesunden“ Menschenverstand und „gesundes“ Menschengefühl einfließen zu lassen. Und dabei ist es nur eine der Herausforderungen, dass wir eine unglaubliche Vielfalt an Wahrnehmungen von „gesund“ besitzen.
 
Das Thema sprang mich in der letzten Woche noch einmal intensiv an, als auf Spiegel Online Stefan Schultz in einem Essay darzustellen versuchte, was wohl nach der Leistungsgesellschaft kommt. Hintergrund für diese tatsächlich immer spannendere Fragestellung ist die Feststellung, dass sich auf einer 10-er Skala der „Ich-Entwicklung“ der Mittelwert langsam aber kontinuierlich immer weiter nach oben schiebt. 
 
Natürlich kann man jetzt hingehen und sich denken „so what, klar entwickeln wir uns weiter“. Ich finde allerdings den Zusammenhang zwischen diesen Stufen der Ich-Entwicklung, die auf der Arbeit von Jane Loevinger zurückgehen und den Entwicklungsstufen z.B. die Frederic Laloux in „Reinventing Organization“ aufzeigt (und die auf Ken Wilburs „Spiral Dynamics“ zurückgehen) oder auch den Reifegrad von Organisationen, wie man ihn z.B. im Haufe Quadranten findet, spannend, denn sie sind zwar in der Theorie alle eigenständig, in der Praxis aber eng stark miteinander verwoben.
 
Ich fange nochmal bei der Ich-Entwicklung an. Bei der Betrachtung der einzelnen Beschreibungen dieser Stufen anschaut, wird klar: oh-oh, es gehört eine Menge dazu, dass wir friedlich, entspannt und positiv miteinander umgehen und arbeiten. Und, hey, so ganz gelingt dies schließlich auch nicht wirklich immer. (Fun-Fact – oder auch nicht so lustig: Donald Trump wird von manchen auf Stufe 3 eingeordnet (was auch Rückschlüsse auf dessen Wähler zulässt)). 
 
Auf Spiegel Online sind die am häufigsten vorkommenden Stufen wie folgt beschrieben (wobei man sagen muss, dass niemand auf nur einer Stufe lebt – wir alle tragen immer Anteile verschiedener Stufen in uns!):

Stufe Hauptcharakteristika Häufigkeit
E3: Selbstorientierte Stufe Lebensmotto: Sich durchsetzen. Typisches Auftreten: Opportunistisch. Stark auf den eigenen Vorteil bedacht. Gutes Gespür für Gelegenheiten, die eigenen Interessen durchzusetzen. Teils aggressiv-einschüchternd. Typische Denkweise: Fühlt sich schnell angegriffen. Freund-oder-Feind-Logik. Sehr kurzfristiger Zeithorizont. 5 %
E4: Gemeinschaftsbestimmte Stufe Lebensmotto: Gemeinschaft. Typisches Auftreten: Loyal. Diplomatisch-vermittelnd. Stellt sich selbst zurück, um die Regeln und Normen der Bezugsgruppe zu befolgen. Argwohn gegenüber Menschen außerhalb der eigenen Gruppe. Teils blinder Gehorsam. Typische Denkweise: Schwarzweißdenken. Selbstwert hängt stark von der Akzeptanz anderer ab. Eher kurzfristiger Zeithorizont. 12 %
E5: Rationalistische Stufe Lebensmotto: Abgrenzung. Typisches Auftreten: Legt Wert auf die eigenen Besonderheiten und Meinungen. Pragmatisch. Auf klare Verhältnisse bedacht. Mitunter perfektionistisch. Typische Denkweise: Aufbau von Expertenwissen. Feste, mitunter starre Vorstellungen, wie die Dinge laufen sollten. Mitunter Probleme beim Priorisieren. Kurz- bis mittelfristiger Zeithorizont. 38 %
E6: Eigenbestimmte Stufe Lebensmotto: Eigene Ziele erreichen. Typisches Auftreten: Klar abgegrenzt, dennoch prinzipiell Beziehungen auf Augenhöhe angestrebt. Stark selbstoptimierend, dadurch mitunter gehetzt. Typische Denkweise: Hinterfragt Motive. Analytisch. Differenziert. Beginnend selbstkritisch. Zeithorizont von fünf bis zehn Jahren. 30 %
E7: Relativierende Stufe Lebensmotto: Individualität. Typisches Auftreten: Größere Offenheit für andere Meinungen und Lebensweisen. Selbstverwirklichung jenseits sozial vorgegebener Rollen. Typische Denkweise: Relativiert zunehmend eigene und fremde Ansichten. Hinterfragt die gesellschaftliche Prägung der eigenen Sichtweisen. Wachsendes Bewusstsein für die Komplexität und Einzigartigkeit eines jeden Moments. 10 %

Quellen: Thomas Binder, Susanne Cook-Greuter, Jane Loevinger, Zusammenstellung der Spiegel Online Redaktion/Stefan Schultz 
 
Was bedeutet es also für unsere Arbeit, wenn wir uns langsam von „E5: Rationalistische Stufe“ in Richtung „E6: Eigenbestimmte Stufe“ bewegen? Was bedeutet es für Führung, Organisationsstrukturen und Managementmodelle? 
 
Spätestens an dieser Stelle schlägt die Komplexität voll durch, denn mit der Entwicklung der Gesellschaft, d.h auch mit der Entwicklung vieler Individuen in dieser Gesellschaft, sollten sich die Rahmenbedingungen für Arbeit ebenso weiterentwickeln – sonst geraten Unternehmen innerlich in Schieflage. Die so gerne singulär betrachteten Vorgänge der einzelnen Entwicklungen, zeigen in ihrem Zusammenhang betrachtet deutlich auf, dass gerade im Kontext von zeitgemäßer Führung und Management eine Menge auf uns zukommt. 

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Darstellung von Rod Collins, Director of Innovation at Optimity Advisors


 
Nicht, dass all das neu wäre. Ein Unternehmen zu führen, die Zusammenarbeit zu organisieren, bzw. die Grundlage und Rahmenbedingungen für „gute Zusammenarbeit“ zu schaffen ist bekanntlich eine echte und umfassende Herausforderung. Dennoch wird es immer bedeutsamer, sich der systemischen (nicht die systematischen) Zusammenhänge bewusst zu sein. Zu schnell geht im alltäglichen miteinander verloren, dass das einfache, lineare Schauspiel zwar so einfach zu verstehen und vermeintlich einfach zu steuern ist, es aber ein immer gefährlicherer Trugschluss ist, dies für die ultimative Weisheit zu halten. 
 
Auch wenn das Leben oftmals vorgibt ein langsamer, stetiger Fluss zu sein, es gibt sie eben doch, die plötzlich auftretenden Stromschnellen, weil irgendwo 500km entfernt ein Starkregen niedergegangen ist. Die Dinge, die Menschen, die Prozesse, die Strukturen sind auch und gerade in Unternehmen immer enger miteinander verwoben. In lebendigen Organisationen sind sie, in gewisser Weise, jeden Tag neu, denn jeden Tag wirken neue Einflüsse auf das Gesamtsystem ein.           
 
Doch, was kann man tun, ohne beim Versuch des Verständnisses zirkulärer Zusammenhangsbeeinflussung vollkommen den Verstand zu verlieren? 
 
Je nachdem, in welchem Kontext und in welchen Aufgabengebieten man tätig ist, rate ich zunächst zu folgendem:

  1. gilt für alle: Nehmt euch 10 Minuten Zeit und schaut euch zumindest die grundlegenden Beschreibungen der Ich-Entwicklungsstufen (oder anderer „Persönlichkeits“analysen) an. Versucht auf dieser Basis zu verstehen, an welchen Stellen ihr anders denkt und handelt als andere in eurem Umfeld und nehmt dies zunächst einmal OHNE BEWERTUNG wahr – denn eine Bewertung verändert hier nichts außer eurer inneren Einstellung, was andererseits fatal enden kann.
    Zu verstehen, warum jemand wie handelt, tiefer zu blicken kann euch aber den Weg eröffnen den anderen einfach besser zu verstehen, toleranter mit ihm/ihr umzugehen, es kann helfen die Kommunikation zu verbessern und Konflikte zu vermeiden. Wer sich und die Treiber und Sichtweisen anderer verstanden hat, gestaltet sich selbst den Boden, auf dem einfachere Zusammenarbeit gedeihen kann.
  2. gilt für alle, die Organisationsmuster beeinflussen: Die Strukturen, in denen (anschließend) Menschen Zusammenarbeit (sollen), hängen nicht (nur) von den Aufgaben und Rollen ab. Sie hängen immer auch von den Menschen ab, die darin wirken sollen. Auch wenn wir gewohnt sind, diese Grundmuster unabhängig von den Menschen zu gestalten.
    Wo wir uns also in Laloux Entwicklungsstufen wiederfinden, welche „Farbe“ das Unternehmen hat, sollte zu den Menschen in der Organisation passen. (Wobei spätestens die Menschen in der Orga dafür Sorge tragen, dass sich die Farbe ändert, wenn sie nicht zu ihnen passt.)
    Damit bestimmt nicht nur die Idee in einzelnen Köpfen, wie Strukturen, Prozesses, Entscheidungen aufgebaut und getroffen werden sollten, sondern in zunehmendem Maß auch die Menschen die sich („E6“) „eigenbestimmt“ einbringen (wollen).  
  3. Gilt für die Top-Strukturgestalter, mithin die Top-Führung: Kein Mensch und keine Organisation (als Ansammlung von verschiedenen Individuen) agiert nur auf einer Stufe, wir brauchen Raum für Abweichungen vom eigenen Bild und zugleich allgemeingültige Prinzipien, an die sich alle halten können und wollen. In diesem Sinne tut eine „Visionsfilterblase“ gut, eine „Denk-/Verhaltens-/Gleichförmigkeitsfilterblase“ wäre fatal.
    Beide Aspekte im Blick zu haben und die Be(ob)achtung von Regeln und Werten zu vollziehen ist eine immer wichtigere Führungsaufgabe. 
  4. Die Aufgabe der Top-Führung, des Managementzirkels in diesem Zusammenhang ist sich die Systemik klarzumachen, das Zusammenspiel im internen, wie externen zu verstehen und zuzulassen. Sie sind es, die Regeln und Rahmen, und damit die „Farbgebung“ der Organisation  Unternehmens im Blick haben müssen und zugleich die Menschen dazu finden, bzw. umgekehrt, die Entwicklungsstufe der Menschen erkennend die Farbe durch Regeln und Prinzipien der Zusammenarbeit anpassen müssen. Es ist ein Wechselspiel, dass bewusst betrachtet und mit dem umgegangen werden sollte. Es bestimmt mit wie viel Vertrauen, Ehrlichkeit und Offenheit im Unternehmen miteinander umgegangen werden kann.    

 
Das Gesamtsystem jedes Unternehmens wirkt zum einen wieder zurück auf die Menschen darin und damit zum anderen nach außen auf die Gesellschaft. Wer sich dessen bewusst ist, hat viel (für sich) gewonnen. 
 
Die in sich gewundenen und vielfach verbundene Dreifachhelix des Gesamtsystems einer Organisation, bestehend aus dem sozial-menschlichen, dem fachlichen und dem organisationalen Strang zu gestalten ist eine komplexe aber am Ende auch dankbare Aufgabe. Je mehr Zufriedenheit und Erfolg sich einstellen, je besser das Zusammenspiel funktioniert, desto mehr haben die Menschen darin die Chance sind und damit wiederum das Unternehmen weiterzuentwickeln – eine win-win Spirale. Eine Spirale, die ganz automatisch versteht, wann und wie der Sack Reis Bedeutung für die Organisation hat, einfach und auch weil Raum (und Freude) da ist, um mit gesundem Menschenverstand und gesundem Menschengefühl jeden (Arbeits-)Tag miteinander zu verbringen.