Wer kennt sie nicht, die Momente des „Kontrollverlusts“? Mein letzter liegt gerade eine Woche zurück. Ein krasser Fall, zugegeben, aber eben auch einer, der dazu geführt hat, mich intensiver mit dem Thema auseinanderzusetzen.
 
Was passiert da, wenn der Boden unter unseren Füßen nachgibt und das Gefühl der Angst um sich greift? Was ist da los, wenn wir in Sekundenbruchteilen vom Steuermann zum blinden Passagier auf unserem eigenen Schiff, unterwegs in Richtung Zukunft und Existenzgrundlage werden? Was bringt uns so sehr in das Gefühl der Ohnmacht, dass wir zwischen Stillstand und vollkommener Überforderung die Realitäten kaum noch wahrnehmen?
 
Im „normalen“ Leben können dies Momente sein, wie ein steckenbleibender Fahrstuhl, Glatteisregen auf der Autobahn oder ein Kreislaufzusammenbruch. Mit Blick auf Unternehmen sind es im kleinen die Momente, in denen der Chef die geleistete Arbeit einfach ignoriert oder negiert, die „weiter oben getroffene“ Entscheidung, deren noch unabsehbaren Folgen sich in jedem Fall direkt auf das eigene Arbeitsgebiet auswirken oder der, wie ein Damoklesschwert über einem schwebende mögliche Jobverlust. Es sind noch immer die Altlasten einer „Command & Control“ Führung, die entmündigen und Abhängigkeiten erzeugen.
 
Aber auch wohlgemeinte Entwicklungen wie sie im Kontext von „Agilität“, „New Work“ und im „Kulturwandel“ auftreten, können, obwohl sie oft eine deutlich andere Intention haben, zum Gefühl des Kontrollverlustes beitragen. Schließlich zielen alle diese „neuen“ Ansätze darauf, gemeinsames Handeln zu stärken, was aber andererseits bei allen, die auf der Basis von ellbogen-betontem Wettbewerb sozialisiert sind, die Angst verstärkt in einem Zug auf dem Abstellgleis zu sitzen und die weitere Fahrt zu verpassen.
Kurz, es sind immer die Momente mit ungewissem Ausgang, in denen das eigene Handeln nur minimalen oder keinen Einfluss (mehr) auf das Ergebnis hat.
 
Was dann in uns abläuft, sind die gleichen alten instinktiven Reaktionen, die schon seit Menschengedenken unser Handeln prägen. Diesem enormen Stressfaktor ausgesetzt, landen wir irgendwo zwischen Wut, Widerstand, Resignation und Stillstand. Die einen, gerne auch Quertreiber und -denker genannt, starten in die Rebellion, um zu retten, was (für sie) zu retten ist, andere verdrängen, was sie nicht sehen wollen und der Rest gräbt sich einfach weiter in den Treibsand der gelernten Hilflosigkeit ein. Gerade, wenn der Kontrollverlust zu einem Dauerzustand wird, hilft vermeintlich ja Passivität, um die vielleicht doch noch vorhandenen, knappen Ressourcen für den Zurückgewinn der Kontrolle aufzusparen.
 
Was ich vorhin andeutete, lohnt jetzt mit mehr Tiefe berichtet zu werden. Der Kontrollverlust in der VUCA-New-Work-Welt. Kontrollverlust also in einer Welt kontinuierlichen Wandels, stetiger Anpassungsnotwendigkeit und ohne die Möglichkeit langfristig zu planen. Das (ich übertreibe vielleicht ein wenig) Amargeddon und die nicht nachvollziehbare, allumfassende Katastrophe, für manchen Baby-Boomer und so manche ‚Command & Control‘ Führungskraft.
 
Dem Physiker in mir fällt natürlich der Verglich zu Schrödingers Katze ein, deren Schicksal – zwischen Leben und Tod – für den Außenstehenden nicht erkennbar und auch nicht beeinflussbar ist, solange die Kiste noch geschlossen ist. Ähnlich ergeht es denjenigen, die im Zuge der Veränderung befürchten, dass an ihrem Stuhl gesägt wird und der hierarchisch abgesicherte Status flöten geht.
 
Dabei existiert in dieser Analogie auch der Funken Hoffnung der Quantenphysik, die klarmacht, dass gewissen Teilchen nicht beliebige, sondern nur feste, diskrete Werte annehmen können. Die absolute Unvorhersagbarkeit weicht also der Vorhersage immerhin „unterscheidbarer“ Ergebnisse.
 
Das erlaubt eine neue, veränderte Dimension der Kontrolle und Perspektive. Eine, die es ermöglicht, den Kontrollverlust in viele kleine Abschnitte zu unterteilen, die für sich genommen auch als Wachstums-, Entwicklungs- oder Lernchance aufgefasst werden können. Anders also, als der „Kontrollverlust im Großen“ der mittel- oder unmittelbar an den Rand der Katastrophe zu führen und damit existenzbedrohend erscheint.
 
Wichtig, um diese kleinen Schritte zu gehen und diese Wahrnehmung zu entwickeln ist, sind zwei Entscheidungen, die jeder von uns, zumindest im Kontext ‚Arbeit’ selbst treffen kann bewusst zu machen:
Erstens hilft es, die möglichen Entwicklungsrichtungen, die das Thema, das das Gefühl des Kontrollverlustes ausgelöst hat, zu verstehen.Um den Blick wieder über den Tellerrand heben zu können, brauchen wir das Gefühl, dass hinter dem Tellerrand eine Welt existiert, die zu betrachten lohnt. Wir brauchen eine persönliche (oder gemeinsame, aber dazu komme ich noch) Vision, ein Ziel, eine Idee.
 
Zweitens kann man versuchen, sich des eigenen, individuellen Verhaltens und der damit eingenommenen Rollen klarzuwerden. Konkret:

  • Kann ich offen damit umgehen und versuchen kreativ den („vermeindlichen“ ?!) Kontrollverlust für etwas Positives zu nutzen? Gelingt es als Quer- und Weiterdenker ein Reframing der Situation umzusetzen?
  • Kümmere ich mich gerne darum, die Ressourcen zu strukturieren, um dann gemeinsam Ideen zu entwickeln? Kann und will ich das ansprechen und versuchen Gleichbetroffene oder Gleichgesinnte zu finden?
  • Sehe ich die drohende Gefahr als so existenziell an, dass ich mich wie gelähmt zur Verfügungsmasse anderer degradiere?

Der Kontrollverlust lässt sich vielmals als fließender Veränderungs- und Entwicklungsprozess neu fassen und so leichter aushalten. Nichtsdestotrotz gilt: Sich diesem Angstthema so zu nähern bedeutet, einen Teil der zuvor wahrgenommen Sicherheit aufzugeben und sich neu zu orientieren. Es ist Zeit die Komfortzone um ein paar (zunächst kleine, aber entscheidende Schritte zu verlassen, um die ‚Magische Zone‘ mit neuen Aussichten und Möglichkeiten zu erreichen.
 
Dies gelingt um so leichter, je mehr ich mich bereits in einem Zustand (relativer) Unabhängigkeit und Freiheit wahrnehme, wenn ich etwa in Bezug auf den Arbeitsort, die Arbeitszeiten bereits unabhängig(er) entscheiden kann und (zudem), wenn ich mir eines starken, tragfähigen Netzwerks von Kollegen bewusst bin. Diese beiden Faktoren, Wahlfreiheit und Verbundenheit bzw. Vernetzung, sind die wesentlichen Einflussgrößen, um mit dem Gefühl eines individuellen Kontrollverlustes in einer beruflichen Situation umzugehen.
 
Um aus das Angstgefühl weiter einzugrenzen sind weitere Trigger hilfreich:

  • So fordern auch kleine Erfolgserlebnisse das Gefühl das jetzt so wichtige Selbstvertrauen. Man sollte sie sich bewusst machen und wo möglich feiern und so emotional verstärken.
  • Kleine Rituale und Symbole helfen, sich an die (ersten= positiven Schritte und Entwicklungen zu erinnern und die damit verbundenen positiven Gefühle besser zu verankern.
  • Der Kontakt zu erfahreneren Kollegen und Mentoren macht es leichter, neue Perspektiven und Ansätze zu betrachten.
  • Sich die eigene Schwäche und Verletzlichkeit einzugestehen und sich zugleich klarzumachen, dass wir in einer Welt Leben, die „Permanent beta“ als eine relevante Facette des Gestaltungsraums in sich trägt, hilft ebenfalls. In dieser „neuen“ (Arbeits)Welt sind wir alle, in Bezug auf immer mehr Themen ‚permanente Anfänger‘.

Bei all diesen Triggern geht es darum, die Wahrnehmung zu stärken, Teil einer Gruppe von „powerful people“ zu sein, von Menschen, die zwar beim ersten Blick nur wenig „Macht“ zu besitzen scheinen, aber bei denen sich auf den zweiten Blick offenbart, dass dennoch viel Gestaltungsspielraum vorhanden ist. Doch: dieser Schritt braucht Ruhe und Mut zur Reflexion. Gerade wenn die Dinge nicht so laufen, wie man sie gerne hätte, hilft es Teil einer vertrauensvollen und vertrauenswürdigen Gemeinschaft zu sein, die fest entschlossen ist ein gemeinsames Ziel umzusetzen!
 
Um sich dieser Position klar zu werden, hilft es, in die Kommunikation innerhalb der Organisation zu investieren und sie zu intensivieren. Wer umfassend, ehrlich und transparent die eigene Sichtweise und die Bedürfnisse zum Ausdruck bringt, gewinnt nicht nur Ansehen und Zuspruch, sondern auch Unterstützung. Es hilft den eigenen Ansatz zu reflektieren und hilft die Zielsetzung der anderen zu verstehen. Allein das eröffnet neue Handlungsspielräume und die Chance gemeinsam zu (re)agieren.
 
Kontraproduktiv ist es allerdings in Situationen, in denen ein möglicher oder bereits stattgefunden Kontrollverlust ein Thema ist, mit Neid, Misstrauen und übermäßigem Widerstand zu reagieren.
 
Der Kontrollverlust ist oftmals ein Thema, dass den einzelnen besonders betrifft, womit er oder sie aber selten wirklich alleine ist. Oftmals ist das Gefühl in größerem Umfang in der Organisation präsent, ohne direkt angesprochen zu werden. Ein manchmal fatalen Fehler, der ganze Unternehmen ausbremst, Innovation verhindert und die gemeinsame Leistung einbrechen lässt.
 
Was mir in der letzten Woche geholfen hat, aus meiner ‚Gefangenschaft‘ der Ohnmacht und dem damit wahrgenommenen Kontrollverlust zu entfliehen, war das Wissen, dass es zwei Gruppen gibt, die mir helfen konnten und wollten, um mit der Situation fertig zu werden. Zum einen waren es meine „Mitgefangenen“. Mein Umfeld, dass in derselben Situation steckte, sodass wir uns mit unseren unterschiedlichen Fähigkeiten unterstützen konnten. Zum anderen war es „externer Support“, d.h. Menschen, die fachliches beisteuern konnten, ohne direkt in gleichem Maß betroffen zu sein. Notwendig war dazu die Probleme klar anzusprechen und trotz einer emotionalen Aufgewühltheit offen und ehrlich miteinander zu sprechen.
 
Am Ende haben wir gemeistert, was es zu meistern galt. Auch und vielleicht in dieser Form auch gerade wegen, des zuvor gefühlten Kontrollverlustes, denn nur so waren wir bereit über unsere Schatten zu springen.