Führung wird immer anspruchsvoller. Es reicht in den meisten Organisationen schon lange nicht mehr aus, mit klaren Weisungen und Aufträgen den Mitarbeitern zu sagen, was es zu tun und zu lassen gilt. Immer komplexere Umfelder erfordern von Führungskräften entweder die Fähigkeit exponentiell neue fachliche, psychologische und soziale Kompetenz zu entwickeln oder einen „neuen“ Weg einzuschlagen, um nicht selbst in der Überforderungsfalle zu landen. Die Herausforderung ist, dass diese, sich immer schneller und weniger erwartbar entwickelnden Umfelder weder Gelegenheit bieten, sich anzupassen und neue Kompetenzen aufzubauen, noch neue Wege tatsächlich auszuprobieren. Die aktuell durch den Covid-19 verursachten Entwicklungen, die von einem einzelnen erkrankten Schuppentier ausgehend, jetzt globale Auswirkungen besitzen und weltweit Unternehmen ganz konkret wirtschaftlich treffen, sind da nur die Spitze des Eisbergs.
 
Wer zukunftsgerichtet Menschen in einer Organisation führen will, wer als Führungskraft Anerkennung finden will, der muss sich, mit steigendem Erwartungsdruck von allen Seiten darauf einlassen etwas, im ersten Moment vollkommen widersinnig anmutendes zu tun: bewusst, gezielt und dosiert „loszulassen“.
 

Was bedeutet „loslassen“?

Im ersten Moment klingt „loslassen“ danach, den Mitarbeitern alle gewünschten Freiräume weitgehend und unmittelbar zu gewähren. Doch, wer so handelt überfordert sich und die meisten Beteiligten in/an der Organisation. Wer die Entwicklung mehrerer Kinder miterlebt hat, kennt das: Jeder hat andere Bedürfnisse, eine andere Art und Geschwindigkeit mit Herausforderungen umzugehen, ein anderes Selbstbewusstsein, -verständnis und -vertrauen. Jeder braucht einen anderen Zugang zu dem, was später als „mehr Freiraum“ wahrgenommen wird. Sonst läuft – so glaubt man – den ganzen Tag die Spielkonsole und die Chipstüten leeren sich im Minutentakt. (Zum Glück läuft es dann doch meist anders, wenn man die Kids die Verantwortung tatsächlich gibt.)
 
Zwar sind Mitarbeiter im Regelfall Erwachsene mit anderen Ansprüchen, anderen Erfahrungs- und Kompetenzhintergründen, aber die meisten alten, konservativen Organisationsmuster zwingen sie dennoch in erziehungsgleiche, „kindähnliche“ Abhängigkeitsstrukturen. Sich aus diesen heraus zu entwickeln ist eine Aufgabe, die von beiden Seiten ein achtungsvolles und achtsames Vorgehen erfordert.
 

Was bringt loslassen?

Wenn es so schwierig ist, warum dann nicht bei den alten Muttern bleiben?
Wer genauer hinschaut bemerkt, dass sich „erwachsen zu sein“ und „erwachsen zu handeln“ in den letzten 25 Jahren in einem hohen Maß verändert hat. Mit der Entwicklung weltweiter, individueller Echtzeitkommunikation und einer exponentiell wachsenden Menge an theoretisch verfügbarem Wissen ist die Notwendigkeit für jeden einzelnen gewachsen, sich entsprechend zu verhalten. Wir wissen heute viel mehr über die Auswirkungen unseres Handelns, haben mehr Einflussmöglichkeiten und tragen somit (theoretisch) jeder ein höheres Maß an Verantwortung für den Wandel in der Welt.
 
Jedoch sind wir oftmals in den Mustern einer Sozialisierung und eines Verantwortungsgefühls gefangen, die eben noch aus den alten Zeiten stammen. Zurzeit zeigen „die jungen“ wieder mal aber wohl mehr denn je, wie man damit auch anders umgehen kann.
 
In einer Führungspositionen loszulassen ist damit ein persönlich befreiender Schritt – mit all den vermeintlichen Gefahren, die das zu bergen scheint. Es ist ein verantwortungsbewusster Vorgang, der andere wieder mehr in deren Verantwortung bringt – was manchmal auch auf Widerstände stößt, weil.. na, ich sagte es schon…
 
Es befreit auch, weil sich, damit vermehrt Gelegenheiten ergeben, in denen man die eigene Meinung mit bewusster und (noch) verantwortlicher handelnden Mitarbeitern besser diskutieren und reflektieren kann. Man steht nicht mehr allein und kann sich so mehr Rückhalt und Anerkennung erarbeiten. Man erhält Zugang zu den „neuen Insignien der Macht“ und schafft was Führung tatsächlich ausmacht: Man gibt Menschen die Möglichkeit zu folgen, ohne dies Top-down entscheiden zu haben, sondern weil sie frei entscheiden können und für sich Vorteile darin sehen.
 
Natürlich öffnet das auch den Raum für anderen Ansichten und Meinungen, natürlich öffnet es für Diskussionen und Kritik, die zuvor unmöglich waren, aber damit entsteht auch die Chance vielfältigere Lösungen zu entwickeln und Antworten auf die Problemstellungen der „VUCA-Welt“ zu finden. Die so gefundenen Antworten auf Vielfalt, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit fallen oftmals besser und erfolgversprechender aus, wenn mehr als nur eine Perspektive einfließt.
 

Loslassen will gelernt sein

Hinzugehen und Montagmorgens per mail zu kommunizieren „Dann macht halt, was ihr für richtig haltet“ ist entsprechend ein Schuss, der schnell nach hinten losgehen kann.
 
Zielführender ist es, bei sich selbst zu beginnen, ein paar Dinge loszulassen und zu schauen, welche Entwicklungen sich ergeben.

  1. Persönlicher Verzicht: Das erste Loslassen muss nicht – oder nur in geringem Maß – andere betreffen. Leichter fällt es, bei sich selbst beginnen, sich zu beobachten und zu fragen, auf welchen Bereich man in Zukunft weniger Einfluss nehmen will oder welche Routinen verzichtbar sind. Die Frage ist, welche Wege, welche Abläufe, welche Standards und kleinen Entscheidungen man weglassen oder anderen überlassen kann, ohne dass die Dinge gleich aus dem Ruder laufen.
  2. Persönlichen Rahmen abstecken: Die zweite Frage ist, welche Dinge wirklich persönlich Bedeutung besitzen und welche Rahmenbedingungen und Regeln notwendig sind. Was ist wichtig, um sich weiter wohlzufühlen? Was muss unbedingt bleiben wie es ist, wo kann man zulassen, dass sich Dinge weiter entwickeln? Ist es wichtig den Schreibtisch abends leer gearbeitet zu haben, an allen Meetings teilzunehmen und jede Entscheidung abzuzeichnen oder ist es nicht auch möglich anders mit den Themen umzugehen? Sind alle Termine im Kalender wirklich von ultimativer Bedeutung?
  3. Organisationalen Rahmen reflektieren: Was man für sich getan hat, kann man auch für die (Teil)Organisation tun, die bislang eng(er) geführt wurde. Welche Prinzipien und Grundannahmen sind wirklich wichtig, damit der Geschäftsbetrieb möglichst störungsfrei läuft? Was ist überflüssig und „kann weg“? Welche Standards und Routinen behindern mehr als das sie nützen? Warum wurden die Dinge bislang so gemacht, wie sie gemacht wurden und wohin soll sie Reise gehen, d.h. mit welchem Selbstverständnis soll die Organisation in die Zukunft gehen.
  4. Individuellen Raum schaffen: Wurden so die Voraussetzungen geschaffen, fällt es leicht(er) auch auf einer individuellen Basis mehr Raum zu geben. Dennoch ist dies der wohl schwierigste Schritt, weil nach dem bereits begangenen persönlichen Weg tun auch auf der anderen Seite, bei den Mitarbeitern, die Bereitschaft und der Wunsch vorhanden sein sollte, diese Dinge in dem wahrscheinlich neu gestalteten Rahmen zu übernehmen und in diesem Kontext zu verantworten. Dafür braucht es oftmals mehr Austausch und Beziehungstiefe, mehr Vernetzung und Offenheit für andere Meinungen. Gelingt es, ist ein zweites wesentliches Ziel „neuer“ Führung erreicht: Man hat anderen den Raum gegeben, selbst zum Leader zu werdend (temporär) Führung zu übernehmen. Das ist auch den Schritt, der den größten persönlichen Nutzen für denjenigen besitzt der loslässt, denn der so entstehende Raum erlaubt es, selbst empfangsbereiter für die vielen Dinge zu werden, die zuvor in der Last des Arbeitsalltags untergegangen sind. Loslassen wird so zum „load balancer“ und ist auch ein Befreiungsschlag.

 
Im Kern geht es darum, die Grundvermutung wieder aufleben zu lassen, dass auf Basis klarer, gemeinsamer Parameter der „gesunde Menschenverstand“ und ein „gesundes Menschengefühl“ dazu führt, dass man wieder gemeinsam am gleichen Strang und in die gleiche Richtung zieht, auch ohne, dass dies ständig neu eingefordert und neu kontrolliert werden muss. Loslassen heißt Verantwortung zu übergeben und (auf beiden Seiten) Verantwortung dafür zu übernehmen, dass die Zusammenarbeit einfach, wirkungsvoll und erfolgreich funktioniert. Ein gerade geleastes Dokument von Tesla zeigt auf, wie diese Parameter und Rahmenbedingungen dort formuliert wurden.
 
Es ist die Verantwortung dafür, dass Raum da gegeben wird, wo er hilfreich und notwendig ist. Raum um Selbstbewusstsein, Kompetenzen und Fähigkeiten wachsen zu lassen und Raum um selbst, als „amtierende Führungskraft“, langfristig neuen Entwicklungsraum zu erhalten. Loslassen ist win-win, für den Preis die Dinge bewusster zu betrachten und Beziehungen zu vertiefen. Und gute Beziehungen, zusammen mit der Gewissheit, dass Raum da ist, um sich voll einzubringen, sind der Treibstoff für Hochleistungsinteraktion und maximale Wirkung. Eigentlich also doch ein lohnendes Ziel.