Man hört sie derzeit oft, die Aussage, dass wir in einem “new normal” angekommen sind. Einem „new normal“, das sich als auch Folge der Corona-Pandemie in Unternehmen und der Gesellschaft ausbreitet. Ein „new normal“ das in manchem den new work Ansätzen folgt, die in einer wachsenden Filterblase schon lange angestrebt wird.
 
Im Kern geht es um den, aktuell zwangsläufigen und in manchen Ausprägungen langfristig wünschenswerten, „anderen“ Umgang miteinander. Eine andere Art zu handeln, zu leben, zu arbeiten. Eine andere Art Rücksicht zu nehmen, Vorsicht walten zu lassen und nachhaltig zu agieren.
 
Was ich mich allerdings frage: Wie „normal“ ist dieses „neue Normal“ wirklich? Wie weit ist es schon etabliert, wie weit kann und sollte man es aktiv etablieren, in Unternehmen und der Gesellschaft? Wie weit sind wir bereit und willens eine neue Basis, eine neue Kultur und am Ende auch eine neue Gesellschaft zu schaffen und zu akzeptieren?
 
Interessant zu beobachten ist auch wie unterschiedlich das „neue Normal“ ist. Es gibt keine, auch nur im Ansatz, einheitliche Norm für dieses Normal. Es wird so unterschiedlich wahrgenommen, wie wir Menschen, wie Organisationen und Gesellschaft(en) unterschiedlich sind.
 
Gibt es dann überhaupt „ein“ neues Normal? Oder gibt es viele und der gemeinsame Punkt ist „nur“, dass wir zu mehr Toleranz, mehr Rücksichtnahme und mehr Offenheit gefunden haben?
 
Das wiederum setzt einen breiten Konsens voraus, den es zu geben scheint. Allerdings werden zurzeit auch die wieder lauter, die diesem neuen Normal nicht trauen, die in den Veränderungen Verschwörungen wittern und damit lautstark nach außen gehen. Sie sind es (auch) die das neue Normal mit definieren. Denn mit jedem Querdenken, sei es im etablierten positiven Sinne, oder dem „neuen“, die Grundfesten eines gesellschaftlichen Miteinanders in Zweifel ziehenden Sinne, werden aktiv die Grenzen verbreiteter, akzeptierter Komfortzonen verlassen.
 
Es stellen sich Fragen wie: Wem kann ich glauben? Wessen Aussagen und Meinungen kann ich vertrauen? Welchen Gruppen? Welchen Institutionen?
 
Mangelnde Klarheit ist eine Chance, kann aber auch ins Chaos führen. Eine der Kernfragen ist, wer, jenseits großer Philosophien, im kleinen und im Alltag, den Dialog führt, um Werte- und Verhaltensnormen neu zu prägen. Wir kommen nicht lange ohne Normen aus, denn ohne sie fehlen uns die Filter, die uns im (Arbeits)alltag helfen zwischen bedeutsamen und weniger oder indirekt bedeutsamen Wahrnehmungen zu unterscheiden.
 
Bis dies geschieht bewegen wir uns in einer Zwischenwelt, einer Welt in der es darum geht ständig auszuloten, was von den anderen akzeptiert und was sanktioniert wird. Damit stellen sich weitere Fragen:

  • Wie gehen wir damit um, wenn jemand von einer „aktuellen“ neuen Norm abweicht – wie weicht man überhaupt ab, wenn es keine allgemeine Norm gibt?
  • Was sollte man tolerieren, was sollte sanktioniert werden? Wie konsequent muss man vorgehen und WER übernimmt diesen Job?
  • Wieviel Prozent Abweichung und AbweichlerInnen lassen wir zu?

 
Am Ende geht es um den Besitz der Deutungshoheit. Dies ist eine Diskussion, die wir dringend führen sollten, bevor wir ein „neues Normal“ ausrufen.
 
Auch ich habe dazu (noch) keine klaren Antworten. Allerdings sehe ich, wie wichtig es ist im kleinen Rahmen, z.B. bei der Diskussion neuer Rahmenbedingungen für die Zusammenarbeit, inkl. Home Office und/oder der Nutzung virtueller Arbeitsräume, damit zu beginnen diese Themen ganz konkret zu betrachten, Leitplanken zu definieren und (bereits im Vorfeld) Sanktionen deutlich zu machen.
 
Wer einfach so in ein neues Normal stolpert, läuft Gefahr hart aufzuschlagen. Die vielen kleinen „new normals“ brauchen viele große Antworten. Es ist Zeit darüber nachzudenken!